Es kommt ein Augenblick, den man bei den Männern „kranke Stunde“ nennt. Es geht nicht um den Krieg, es geht nicht um den Widerstand, den Charakter, die Schwäche. Es geht nicht um den Mangel. Es geht um die Leere. Die Männer fühlen sich leer. Einfach so. Oder mit Grund. Der Fluss der Gedanken stockt; der Wille irrt umher wie der blinde Polyphem und streicht mit der Hand über die Rücken der dickwolligen Widder auf der Flucht. Es bleibt nur die Höhle. Die dunkle Höhle mit den stummen Wänden. Es bleibt der Raum drinnen, der Innenraum, aus dem ständig etwas flieht.
Die Männer fühlen sich leer. Entleert. Es ist nicht so, dass jemand sie oder sie jemanden verlassen hätten. Es bricht die Leere auf wie schwarzer Wein. Neben dem Mann wird voller Pathos über Politik, Frauen, Reisen, Skandale geredet. Neben ihm und vor ihm erzählt man sich Anekdoten und Witze. Der Mann quält sich ein Lächeln ab und fühlt sich noch leerer. Das ist jedoch nicht der Grund. Es gibt keinen Grund. Oder Gründe. Der Mann spürt, wie ihn seine Leere aufsaugt, und plötzlich fühlt er sich völlig abgelöst von allem um ihn herum. Der Strahl seines Denkens muss nur den festen Boden der Ursächlichkeit berühren und er weiß, was er schon vorher wusste: die Leere, die in ihm aufbricht, hat keine sozialen, freudianischen, niederen oder anderen Gründe …
Der Mann ist analytisch. Er weiß, wenn er sich einem Gesprächspartner widmet, ein Buch zur Hand nimmt, Musik abspielt, den Fernseher einschaltet oder jemanden anruft, wird der Leerezustand zurückgedrängt, verschwindet wie die virtuellen Datengespenster auf einem Computer. Trotzdem unternimmt der Mann nichts. Er beobachtet sich beim Sturz in das eigene Ich, einem ungehinderten, hoffnungslosen Sturz, gleich einem Leib im freien Fall. Entfremdung von allem. In erster Linie von sich selbst. Er spürt, dies ist kein Zustand der Verzweiflung. Verzweiflung ist eine Empfindung. Er weiß, es ist keine Angst. Angst ist Erleben. Angst ist die Möglichkeit von Freiheit, die Angst erzieht in absoluter Weise die Kraft des Glaubens, da sie alles Endliche durchkaut und als trügerisch entlarvt.
Warum fühlen sich die Männer leer?
Was hat es mit der jähen Entleerung, Verödung, Auslaugung des Mannes auf sich?
Dem müßigen Denken steht Zeit zur Verfügung, die Sinnlosigkeit des Blühens, der Reifung und des Faulens der Frucht am Ast zu erkennen. Das zielgerichtete Denken verliert seinen Sinn, und sein Strahl reißt ab. Der Leerezustand der Männer setzt ein mit der Leere, die aufbricht wie schwarzer Wein. Die Leere der Männer ist die Entwertung des Schaffens, die Entäußerung davon – der Moment, in dem Abrahams erhobenes Messer in den Nacken seines unschuldigen Sohnes Isaak zu fahren bereit ist. Es ist die Leere jenes schottischen Mannes nach dem Verbrechen, als auch seine Idee vom „Ich“ sich als gänzlich hohl erweist:
… von nun an
ist nichts bedeutsam in der Sterblichkeit,
alles ist Tand nur, tot sind Ruhm und Gnade.
Die Leere der Männer ist Gottes Trauer über das unvollkommene Geschöpf, der Moment des schöpferischen Zweifels, der Augenblick, in dem Ihn die Langlebigkeit seiner Geschöpfe und die Beständigkeit der irdischen Vernunft zu reuen beginnen. Die Leer der Männer ist der unfassliche Überzustand der irdischen Leidenschaften. Die Leere ist keine menschliche Gabe.
Da ist er also, der Mann, der uns dies alles berichtet hat, der Mann, der im Restaurant seinen Teller unberührt vor sich stehen hat, bei dem nur der Name ewig unveränderlich, der Macht von Leben und Tod entzogen ist: Martin Balla.
Am Nebentisch – eine junge Dame mit tiefem Dekolleté. Unter dem gepunkteten Tuch wogen die eingezwängten Brüste im Rhythmus des Atemholens. Infizierend. Sie beobachtet den Mann. Beziehungsweise seinen unberührten Teller. Der Mann lässt sie gleichfalls nicht aus den Augen. Vor allem nicht die zarte Haut ihres Halses und die Umrisse ihrer unten verhüllten Brüste … Die Dame zündet sich eine Zigarette an. Ihre Bewegungen sind träge. Der Mann mustert heimlich ihr Gesicht: hochstehende Wangenknochen, ein feingeschwungener Mund mit leicht aufgeworfenen Lippen, die aussehen wie ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln, ein Kinn in idealer Mispelform, eine gerade, an der Spitze kokett aufgestülpte Nase, Augen in der Farbe von gebranntem Zucker, beschattet von dichten Wimpern, lange, schwarze, krause, nach der Mode der dreißiger Jahre im Nacken zusammengefasste Haare mit an den Schläfen dünn und wellig herabfallenden Strähnen. Eine Meduse.
Dem Mann wird das Gefühl nicht los, die Unbekannte schon einmal gesehen zu haben. Der Eindruck verstärkt sich, als sie ihn anlächelt, um gleich darauf die Augen schamhaft niederzuschlagen. Dem Mann wird klar, dass er ihr noch nie begegnet ist. Die Unbekannte gleicht bloß dem Porträt von Lady … ja, welcher Lady nun? Der Mann weiß, wenn er sich wirklich anstrengt, wird er darauf kommen, wem sie gleicht, aber er legt es nicht darauf an. Allmählich verliert sie jede Bedeutung für ihn, obwohl seine Augen nach wie vor auf ihrem in Erinnerungslosigkeit verborgenen Porträt ruhen. Aus reiner Trägheit. Der Mann meint Kopfschmerzen zu haben, doch die Annahme erweist sich als unrichtig. In ihm bricht Leere auf. Der Mann möchte sie nicht anschauen, fährt aber fort, es zu tun. Aus Trägheit. Der Mann lässt zu, dass man ihn anschaut. Aus Trägheit. Die Frau am Nebentisch holt erneut eine Zigarette hervor. Sie versucht mehrfach, das Feuerzeug anzuzünden, doch es funktioniert nicht. Es ist leer. Sie schaut auf und lächelt ihn neuerlich an. Maßvoll. Sie scheint ihn gut zu kennen. Oder spiegelt sie es nur vor? In ihrem Blick liegt Erwartung. Und eine Aufforderung. Der Mann reagiert trotzdem nicht. Er hat ein Feuerzeug der Marke Zippo in der Tasche, doch es ereignet sich nicht mehr, als dass er diesen Umstand bedenkt.
Die junge Dame, die dem Porträt der Lady (?) gleicht, erhebt sich, greift rasch nach ihrer Tasche und dem Beleg und geht zur Theke. Ihre Schritte sind nervös, und sie bemüht sich, ein nevöses Wenden des Kopfes auf das Maß der Ruhe ihrer Schritte abzustimmen. Ein letztes Mal. Beeindruckt entdeckt der Mann ein elegantes, in gotischer Schrift aufgesticktes „L“ im Blumenmuster der Umhängetasche. Der Mann ist beziehungsweise, wenn man genau sein will, befindet sich an der Schwelle zu einer bedeutenden Entdeckung, und er weiß: da ist nur noch ein Schleier, so dünn wie die Häutchen zwischen den Schichten einer Zwiebel, und – das Porträt der Lady (?) wird die verklebten Fasern seines Erinnerungsvermögens zertrennen.
Allerdings, den für immer und ewig Martin heißenden Mann drückt von seinen Erinnerungen aller Art nur eine. Genauer gesagt, nicht die detaillierte Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, sondern nur das Gefühl oder, so könnte man vielleicht sagen, der Abdruck eines Geschehens. Ein Zimmer im Wohnheim, als er noch studierte. Ein ausgeplündertes Zimmer. Das Schloss hängt schlapp herunter wie die Zunge eines heftig ins Schwitzen geratenen Hundes. Herausgerissen und kastriert wie eine Sprache ohne Geheimnisse. Ein aller Kleider bis aufs letzte Taschentuch beraubtes Zimmer, und dann die Luft, die Luft in diesem Zimmer. Besonders sie, die Luft, die roch, als habe man ihr den Kern ihres Wesens gestohlen, und der Wein, besonders der Wein. Eine auf den Fußboden gefallene Flasche Wein. Das ausgeplünderte Zimmer mit der bestohlenen Luft konzentriert sich in der zerbrochenen Flasche, aus der es noch tröpfelt. Der Raum hat zwei Eigenschaften: die bestohlene Luft und die Leere, die aufbricht wie dieser schwarze Wein.
Wie sollen wir uns das vorstellen? Warum wird die Größe des Verbrechens zur Räuberin der Leere? Warum fühlen sich die Männer leer? Wir sollten sie uns in Formen und Bildern vorstellen wie Sören Kierkegaard. Stellen wir sie uns als eine Art Tippfehler vor, den der Autor (oder Demiurg) übersieht. Ein absichtlich begangener Druckfehler, der einer sein mag oder nicht, der sich aber in der Zusammenschau des Textes auf jeden Fall als eine Art unvermeidlicher Linie jener Gesamtheit erweist – und sie wäre bereit, gegen ihren Urheber aufzubegehren und sich mit konstantem Hass der Korrektur zu verweigern. Und sie würden den Autor gar zu einem absurden Zweikampf herausfordern:
„Versuche nur, mich auszulöschen, du wirst es nicht schaffen! Ich bleibe der Kronzeuge gegen dich, der beweist, dass du ein ganz und gar nutzloser Schreiberling bist.“
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm